Auch der Alleinerbe gewordene Abkömmling kann Ausgleichsansprüche erheben
Der Bundesgerichtshof (BGH) beschäftigte sich bereits in einem Urteil aus 1992 mit dieser Frage, ob und inwieweit ein als Alleinerbe eingesetzter Abkömmling, der zugleich pflichtteilsberechtigt ist, seine Leistungen gegenüber dem Erblasser im Rahmen von Pflichtteilsansprüchen anderer Abkömmlinge nach § 2057a BGB ausgleichen lassen kann. 

Im konkreten Fall ging es darum, dass die Klägerin von ihrer Schwester, der Beklagten, als Alleinerbin ihres Vaters den Pflichtteil verlangte. Das Landgericht hatte der Klage bereits stattgegeben, jedoch die Versorgung des Erblassers durch die Beklagte teilweise als Ausgleich berücksichtigt. In der Berufungsinstanz wurden zusätzlich umfangreiche Mitarbeit der Beklagten im landwirtschaftlichen Betrieb des Vaters und weitere Leistungen angerechnet, was zu einer deutlichen Reduzierung des Pflichtteilsanspruchs der Klägerin führte.

Der BGH stellt zunächst klar, dass die Frage der Ausgleichung nach § 2316 I 1 BGB nicht davon abhängt, ob der Abkömmling enterbt oder zum Erben eingesetzt wurde. Entscheidend ist vielmehr die hypothetische gesetzliche Erbfolge, die für die Pflichtteilsberechnung zugrunde gelegt wird. Damit sind auch Leistungen eines als Alleinerben eingesetzten Abkömmlings im Sinne von § 2057a BGB bei der Berechnung des Pflichtteils anderer Abkömmlinge zu berücksichtigen. Die Ausgleichung kann also sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des enterbten Abkömmlings wirken. Der BGH widerspricht damit der gegenteiligen Ansicht des OLG Stuttgart, das eine Ausgleichung nur zugunsten des enterbten Pflichtteilsberechtigten für möglich gehalten hatte.

Der BGH begründet seine Entscheidung mit dem Wortlaut und dem Zweck des § 2316 I BGB, der keine Einschränkung auf den enterbten Abkömmling vorsieht. Vielmehr wird für die Berechnung des Pflichtteils eines Abkömmlings unterstellt, dass gesetzliche Erbfolge eingetreten wäre und die Ausgleichungspflichten zwischen allen Abkömmlingen bestehen. Die letztwillige Verfügung des Erblassers bleibt dabei außer Betracht. Der BGH betont die systematische Einordnung des Pflichtteilsrechts als Teil des gesetzlichen Erbrechts und verweist auf die Materialien des BGB, die die Bedeutung der Ausgleichung für die Pflichtteilsberechnung unterstreichen.

Auch aus § 2316 II BGB ergibt sich nichts anderes. Diese Vorschrift betrifft lediglich den Fall, dass der eingesetzte Erbe einen Restpflichtteil verlangen kann, wenn der Wert des ihm zugewiesenen Erbteils nicht die Hälfte des Betrages erreicht, der sich bei gesetzlicher Erbfolge unter Berücksichtigung der Ausgleichung ergeben hätte. Die Vorschrift bestätigt damit, dass die Ausgleichung bei gewillkürter Erbfolge nicht nur zugunsten, sondern auch zu Lasten der enterbten Abkömmlinge wirken kann.

Der BGH weist weiter darauf hin, dass der Pflichtteilsanspruch sich nur auf das vom Erblasser stammende Vermögen bezieht. Soweit der Nachlass auf Leistungen eines Abkömmlings nach § 2057a BGB beruht, fehlt es an einer inneren Berechtigung anderer Abkömmlinge, an diesen Werten teilzuhaben. Dies gilt auch dann, wenn die auszugleichenden Leistungen einen erheblichen Teil des Nachlasses ausmachen.

Schließlich weist der BGH die Rügen der Revision gegen die Feststellungen des Berufungsgerichts zur Höhe der auszugleichenden Leistungen zurück. Das Berufungsgericht habe die Dauer und den Umfang der Leistungen der Beklagten verfahrensfehlerfrei bewertet und dabei insbesondere die Fortführung des landwirtschaftlichen Betriebes sowie die persönliche Versorgung des Erblassers angemessen berücksichtigt. Die Bewertung erfolgte unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände und ist nicht zu beanstanden.

Insgesamt bestätigt der BGH, dass auch ein als Alleinerbe eingesetzter Abkömmling seine Leistungen nach § 2057a BGB bei der Berechnung des Pflichtteils anderer Abkömmlinge geltend machen kann. Die Ausgleichung wirkt dabei auch zu Lasten des enterbten Abkömmlings, soweit dies nach den Grundsätzen der gesetzlichen Erbfolge gerechtfertigt ist.

BGH, Az.: IV ZR 82/92, Urteil vom 09.12.1992, eingestell am 30.06.2025